Im September 2018, genau zehn Jahre nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers, entstand in Deutschland eine Organisation, die es so vorher nicht gab: Die Bürgerbewegung Finanzwende. Gegründet von dem ehemaligen Grünen-Bundestagsabgeordneten Gerhard Schick, versteht sie sich als zivilgesellschaftliches Gegengewicht zur mächtigen Finanzlobby. Heute zählt die Organisation mehr als 13.000 Mitglieder und hat mit Anne Brorhilker, Deutschlands bekanntester CumEx-Ermittlerin, prominente Verstärkung erhalten.
Was ist die Bürgerbewegung Finanzwende?
Die Bürgerbewegung Finanzwende ist ein eingetragener Verein mit Sitz in Berlin-Schöneberg. Anders als viele andere NGOs verzichtete die Organisation im Februar 2021 freiwillig auf den Status der Gemeinnützigkeit. Der Grund: Mehr politischer Spielraum für Kampagnen und direkte Einflussnahme auf politische Entscheidungen.
Für Bildungs- und Forschungsarbeit existiert die Tochtergesellschaft Finanzwende Recherche gGmbH, die weiterhin gemeinnützig ist und Spendenbescheinigungen ausstellen kann. Diese Struktur ermöglicht es der Organisation, sowohl wissenschaftliche Grundlagenarbeit zu leisten als auch politisch aktiv zu werden.
Finanzwende auf einen Blick
| Gründung | September 2018 |
| Gründer | Gerhard Schick |
| Mitglieder | Über 13.000 (Stand 2024) |
| Sitz | Berlin-Schöneberg |
| Rechtsform | Eingetragener Verein (e.V.) |
Die Köpfe hinter Finanzwende
An der Spitze der Bürgerbewegung steht ein vierköpfiger Vorstand, der unterschiedliche Kompetenzen vereint. Diese Mischung aus Politik, Justiz, Aktivismus und Wirtschaft macht die Organisation besonders schlagkräftig.
Gerhard Schick – Der Gründer
Der promovierte Volkswirt Gerhard Schick saß von 2005 bis 2018 für die Grünen im Bundestag. Als finanzpolitischer Sprecher seiner Fraktion erlebte er hautnah, wie schwer es ist, gegen die Interessen der Finanzindustrie anzukommen. Seine Konsequenz war radikal: Im Dezember 2018 legte er sein Bundestagsmandat nieder, um sich vollständig der neu gegründeten Bürgerbewegung zu widmen.
Diese Entscheidung war für einen aktiven Abgeordneten außergewöhnlich. Schick begründete sie damit, dass er außerhalb des Parlaments mehr bewirken könne als innerhalb der politischen Strukturen.
Anne Brorhilker – Die CumEx-Jägerin
Im Juni 2024 sorgte der Wechsel von Anne Brorhilker für bundesweites Aufsehen. Die Oberstaatsanwältin hatte mehr als 20 Jahre bei der Staatsanwaltschaft Köln gearbeitet und gilt als erfolgreichste Ermittlerin im CumEx-Komplex. Unter ihrer Leitung kam es zu zahlreichen Verurteilungen, Millionenbeträge flossen an den Staat zurück.
Brorhilker verließ den Staatsdienst aus Frustration über die mangelnde Unterstützung bei der Verfolgung von Finanzkriminalität. Bei Finanzwende leitet sie nun als geschäftsführender Vorstand die Arbeit für eine bessere Strafverfolgung von Wirtschaftskriminalität. Im Jahr 2025 veröffentlichte sie ihr Buch mit dem Titel Cum/Ex, Milliarden und Moral.
Daniel Mittler und Sascha Müller
Seit 2021 verstärken Daniel Mittler und Sascha Müller den Vorstand. Mittler bringt internationale Kampagnenerfahrung mit, nachdem er zuvor als Politischer Direktor bei Greenpeace International tätig war. Diese Expertise ist für die zunehmend grenzüberschreitende Arbeit der Organisation von großem Wert.
Wofür kämpft die Finanzwende?
Die Bürgerbewegung hat fünf zentrale Handlungsfelder definiert, die zusammen ein umfassendes Programm für einen gerechteren Finanzmarkt ergeben.
Bekämpfung von Finanzkriminalität
Der Kampf gegen Steuerbetrug und Finanzkriminalität steht im Zentrum der Arbeit. Dabei geht es nicht nur um die Aufklärung vergangener Skandale, sondern auch um strukturelle Verbesserungen bei Ermittlungsbehörden und Justiz. Die Organisation fordert mehr Personal, bessere Ausstattung und spezialisierte Staatsanwaltschaften für Wirtschaftskriminalität.
Stabilität des Finanzsystems
Die Finanzkrise von 2008 hat gezeigt, welche Gefahren von systemrelevanten Banken ausgehen. Finanzwende setzt sich dafür ein, dass keine Bank mehr als „too big to fail“ gilt. Dazu gehören strengere Eigenkapitalvorschriften und eine konsequente Trennung von Geschäfts- und Investmentbanking.
Ökologische Finanzwende
Ohne eine Neuausrichtung des Finanzsystems ist die Klimawende nicht zu schaffen. Die Organisation deckt Greenwashing auf und fordert verbindliche Regeln für nachhaltige Geldanlagen. Banken und Versicherungen sollen keine Investitionen in fossile Energien mehr tätigen.
Verbraucherschutz
Komplizierte Finanzprodukte, versteckte Gebühren und provisionsgetriebene Beratung schaden Millionen von Verbrauchern. Finanzwende arbeitet mit Verbraucherzentralen zusammen, um bessere Regeln durchzusetzen und konkrete Missstände aufzudecken.
Faire Finanzmärkte
Das übergeordnete Ziel lautet: Finanzmärkte sollen den Menschen dienen, nicht umgekehrt. Dazu gehört auch, den Einfluss der Finanzlobby auf die Politik transparent zu machen und zu begrenzen.
Die fünf Säulen der Finanzwende
- Finanzkriminalität bekämpfen – Steuerbetrug aufdecken und verfolgen
- Systemstabilität sichern – Keine Bank darf zu groß zum Scheitern sein
- Nachhaltigkeit fördern – Geld muss der Klimawende dienen
- Verbraucher schützen – Transparente und faire Finanzprodukte
- Lobby begrenzen – Demokratische Kontrolle stärken
Der CumEx-Skandal: Größter Steuerraub der Geschichte
Kein Thema hat die Arbeit von Finanzwende so geprägt wie der CumEx-Skandal. Es handelt sich um den größten Steuerdiebstahl in der deutschen Geschichte mit einem nachgewiesenen Schaden von mindestens zehn Milliarden Euro.
Wie funktionierte CumEx?
Bei CumEx-Geschäften wurden Aktien rund um den Dividendenstichtag so schnell zwischen mehreren Beteiligten hin- und hergeschoben, dass die Finanzbehörden den Überblick verloren. Das Ergebnis: Mehrere Parteien ließen sich Kapitalertragsteuern erstatten, die nur einmal gezahlt worden waren – oder gar nicht.
Dieses System funktionierte über Jahre hinweg, obwohl einzelne Finanzbeamte früh Alarm schlugen. Banken, Anwälte und Steuerberater verdienten Milliarden, während der Staat systematisch ausgeplündert wurde.
Die Rolle von Finanzwende bei der Aufklärung
Die Bürgerbewegung hat maßgeblich dazu beigetragen, dass der Skandal nicht in Vergessenheit gerät. Mit einer Petition, die 64.000 Unterschriften sammelte, wurde Druck auf die Politik ausgeübt. Ein konkreter Erfolg: Die Staatsanwaltschaft Köln stockte ihr Personal von 50 auf 133 Mitarbeiter auf.
Auch den Whistleblower Eckart Seith, dessen Enthüllungen wesentlich zur Aufklärung beitrugen, unterstützte die Organisation öffentlich.
CumCum – Der vergessene Zwilling
Neben CumEx gibt es das verwandte CumCum-Modell, bei dem ausländische Investoren ihre Aktien vorübergehend an inländische Banken „verliehen“, um von der geringeren deutschen Kapitalertragsteuer zu profitieren. Der geschätzte Schaden: 28,5 Milliarden Euro.
Finanzwende kämpfte erfolgreich für eine Verlängerung der Aufbewahrungsfristen für Steuerunterlagen, das sogenannte „Schreddergesetz“. Damit bleibt mehr Zeit, die CumCum-Fälle aufzuarbeiten.
CumEx und CumCum im Vergleich
| CumEx | CumCum | |
|---|---|---|
| Methode | Mehrfache Erstattung | Steuerarbitrage |
| Schaden | Mind. 10 Mrd. € | Ca. 28,5 Mrd. € |
| Zeitraum | Ca. 2006–2012 | Jahrzehnte |
| Rechtslage | Eindeutig illegal | Grauzone |
Erfolgreiche Kampagnen und Aktionen
In den Jahren seit ihrer Gründung hat die Bürgerbewegung zahlreiche Kampagnen geführt – mit messbaren Erfolgen.
Schutz für Anne Brorhilker
Als 2023 bekannt wurde, dass der nordrhein-westfälische Justizminister die erfolgreiche CumEx-Ermittlerin Anne Brorhilker möglicherweise „kaltstellte“, startete Finanzwende eine Petition. Der öffentliche Druck verhinderte, dass eine der wichtigsten Stimmen im Kampf gegen Finanzkriminalität mundtot gemacht wurde.
Corona-Dividendensperre
Während der Pandemie erhielten viele Unternehmen staatliche Hilfen. Gleichzeitig planten einige, weiterhin Dividenden an Aktionäre auszuschütten. Mit über 17.000 Unterschriften setzte sich Finanzwende für eine Dividendensperre ein – mit Erfolg.
Kritik an Riester-Rente
Gemeinsam mit Verbraucherorganisationen wie dem Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) und dem Bund der Versicherten (BdV) kämpft Finanzwende für eine Reform der staatlich geförderten Altersvorsorge. Die Riester-Rente gilt vielen als zu teuer, zu kompliziert und zu wenig rentabel.
DWS-Greenwashing aufgedeckt
Die Organisation enthüllte, dass der Fondsanbieter DWS in angeblich nachhaltigen Fonds Anteile im Wert von 850 Millionen Euro an fossilen Energieunternehmen hielt. Der Fall führte zu staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen und einer Razzia bei der Deutschen-Bank-Tochter.
Bankenrettung verhindert
Nach der Finanzkrise drohten Banken erneut Milliarden-Geschenke aus Steuermitteln. Finanzwende organisierte Widerstand und konnte verhindern, dass mehr als zwei Milliarden Euro ohne angemessene Gegenleistung an Finanzinstitute flossen.
Das Netzwerk der Finanzwende
Die Bürgerbewegung arbeitet nicht isoliert, sondern ist Teil eines größeren Netzwerks aus Experten, Partnerorganisationen und internationalen Verbündeten.
Prominente Gründungsmitglieder
Bei der Gründung 2018 unterstützten zahlreiche bekannte Persönlichkeiten das Projekt. Darunter waren Christoph Bautz von Campact, der frühere Bundesarbeitsminister Norbert Blüm, der Wirtschaftsweise Peter Bofinger, Transparency-International-Gründer Peter Eigen und die ehemalige SPD-Präsidentschaftskandidatin Gesine Schwan.
Fellows und Experten
Ein Netzwerk aus Fellows bringt wissenschaftliche und praktische Expertise ein. Dazu gehören unter anderem die Wirtschaftsprofessorin Doris Neuberger von der Universität Rostock, der ehemalige Investmentbanker Rainer Voss, der frühere CDU-Abgeordnete und Rechtsprofessor Heribert Hirte sowie der ehemalige nordrhein-westfälische Justizminister Peter Biesenbach.
Auch Norbert Walter-Borjans, der als NRW-Finanzminister die Steuer-CDs aus der Schweiz kaufte und später SPD-Vorsitzender wurde, gehört zum erweiterten Unterstützerkreis.
Internationale Vernetzung
Als Partner von Finance Watch ist Finanzwende auf europäischer Ebene aktiv. Die Brüsseler Organisation setzt sich für eine strengere Regulierung der Finanzmärkte in der gesamten EU ein.
Finanzierung und Transparenz
Die Unabhängigkeit einer solchen Organisation steht und fällt mit ihrer Finanzierung. Finanzwende legt großen Wert auf Transparenz und veröffentlicht regelmäßig Berichte über Einnahmen und Ausgaben.
Woher kommt das Geld?
Die Organisation finanziert sich aus drei Quellen: Mitgliedsbeiträgen, Spenden von Privatpersonen und Zuwendungen von Stiftungen. Dabei wird bewusst auf Gelder aus der Finanzindustrie verzichtet, um die Unabhängigkeit zu wahren.
Die Mitgliederzahl hat sich seit der Gründung stark entwickelt. Von etwa 4.300 Mitgliedern im Jahr 2021 wuchs die Basis auf über 13.000 im Jahr 2024 – ein Plus von rund 60 Prozent allein nach der Ankündigung von Anne Brorhilkers Wechsel.
Transparenzstandards
Finanzwende veröffentlicht Jahresberichte mit detaillierten Angaben zu Einnahmen, Ausgaben und Projekten. Diese Offenheit ist Teil des Selbstverständnisses einer Organisation, die von anderen ebenfalls Transparenz einfordert.
Aktuelle Projekte und Ausblick
Die Arbeit der Bürgerbewegung geht weiter. Mehrere aktuelle Kampagnen zeigen, wohin die Reise geht.
CumCum-Rückholung
Mit der Verlängerung der Aufbewahrungsfristen ist der Weg frei, weitere Milliarden aus CumCum-Geschäften zurückzuholen. Finanzwende fordert vom Bundesfinanzminister, die gewonnene Zeit konsequent zu nutzen.
Digitale Souveränität
Ein neueres Thema ist die wachsende Macht von Big-Tech-Konzernen im Finanzsektor. Von Apple Pay bis zu digitalen Währungen – die Organisation beobachtet diese Entwicklung kritisch und fordert klare Regeln.
Finanzbildung
Über die gemeinnützige Tochtergesellschaft werden Bildungsangebote entwickelt, die Bürgerinnen und Bürgern helfen sollen, das komplexe Finanzsystem besser zu verstehen.
Häufig gestellte Fragen zur Bürgerbewegung Finanzwende
Fazit: Warum die Finanzwende wichtig ist
Die Bürgerbewegung Finanzwende hat sich in wenigen Jahren als wichtige Stimme im deutschen Finanzdiskurs etabliert. Mit über 13.000 Mitgliedern, prominenten Köpfen und messbaren Erfolgen zeigt sie, dass zivilgesellschaftliches Engagement auch bei komplexen Finanzthemen Wirkung entfalten kann.
Der CumEx-Skandal wäre ohne Organisationen wie Finanzwende möglicherweise längst vergessen. Stattdessen werden weiterhin Milliarden zurückgeholt, Verantwortliche vor Gericht gestellt und strukturelle Verbesserungen durchgesetzt. In einer Zeit, in der das Vertrauen in Finanzinstitutionen erschüttert ist, bietet die Bürgerbewegung eine Plattform für alle, die sich für ein gerechteres Finanzsystem einsetzen wollen.











